Die anglophone Krise

Bislang hat die anglophone Krise in Kamerun nur am Rande Einzug in meinen Blog gefunden, obwohl sie sehr prägend für mein Jahr hier ist. Da in den deutschen Medien nur vereinzelt Infos zu finden sind, was dazu führt, dass viele von gar keiner Krise wissen oder aber mich ganz besorgt fragen, was denn hier los wäre, möchte ich diesen Post nun nutzen, um euch über die politische Lage aufzuklären und zu schildern, wie sich dieser Konflikt entwickelt hat.

Geschichtliche Hintergründe

Erstmals kolonialisiert wurde das Gebiet des heutigen Kameruns im Jahr 1848 von dem deutschen Generalkonsul Gustav Nachtigal. Nachdem Deutschland im ersten Weltkrieg seine Kolonien verlor, wurde das Land 1919 unter Großbritannien und Frankreich aufgeteilt, wobei Britisch-Kamerun etwa 1/5 und Französisch-Kamerun etwa 4/5 der Fläche ausmachte. Am 01. Januar 1960 erklärte Französisch-Kamerun seine Unabhängigkeit und Britisch-Kamerun sollte schnell nachziehen. Demzufolge fand am 11. Februar 1961 ein Volksentscheid über die Zukunft dieser Kolonie statt, wobei die Bevölkerung nur die Wahl zwischen einem Anschluss an Nigeria oder Kamerun hatte; die dritte Option – einen unabhängigen Staat zu bilden – blieb ihnen verwehrt. Während der Norden sich Nigeria anschloss, stimmte der Süden der ehemals britischen Kolonie für einen Anschluss an Kamerun.

Somit wurde aus Kamerun am 01. Oktober 1961 ein Föderalstaat, bestehend aus den beiden englischsprachigen Regionen Nord-West und Süd-West und acht weiteren französischsprachigen Provinzen. Dabei sollte sowohl Englisch als Amtssprache als auch das britische Bildungs- und Rechtssystem im anglophonen Teil erhalten bleiben.
Im Zuge eines Referendums wurde aus dieser Föderation im Jahr 1972 ein Einheitsstaat. Dabei verschwand symbolisch auf der Flagge Kameruns einer der beiden gelben Sterne, die eigentlich für die beiden Landesteile stehen sollten.

Die beiden anglophonen Regionen sind Northwest und Southwest

Beginn der Krise

Im Oktober 2016 begannen die Lehrer und Anwälte in den beiden anglophonen Regionen zu streiken. Als Grund für ihren Streik nannten sie die zunehmende „Frankophonisierung“ des Bildungs- und Rechtssystems, da unbeachtet der unterschiedlichen Systeme Arbeitskräfte vom frankophonen in den anglophonen Teil versetzt wurden. Die Proteste weiteten sich bald auf die breite Bevölkerung aus, die eine allgemeine Marginalisierung der englischen Sprache und anglophonen Bevölkerung beklagten, was sie unter anderem an der unzureichenden Infrastruktur, fehlenden Jobperspektiven und der Forderung danach, auf Behörden französisch zu sprechen, da die Mitarbeiter meist auch im anglophonen Teil ausschließlich französisch sprachen, festmachten.

Aufgrund des Lehrerstreiks schlossen am 21. November 2016 alle Schulen im anglophonen Teil und es kam zu einem Volksaufstand mit ersten Toten, der sogenannten "Coffin Revolution". Nur wenig später, am 08. Dezember 2016, gab es Proteste in Bamenda (die Hauptstadt der Nord-West Region), die von Polizei und Militär gewaltsam niedergedrückt wurden und insgesamt vier Tote forderten.

Darauffolgend wurde im Januar 2017 das Cameroon Anglophone Civil Society Consortium (CACSC) gegründet, ein Zusammenschluss der anglophonen Bevölkerung, um die eigenen Rechte durchzusetzen, welches von den Anführern des Lehrer- und Anwältestreiks geleitet wurde. Dieses Konsortium trat auch in einen Dialog mit der Regierung, die Verhandlungen wurden allerdings wegen hinzukommender Forderungen nach der Freilassung der Verhafteten, der Wiedereinführung des Föderalismus und weitgehende Eigenständigkeit der anglophonen Regionen abgebrochen.

Am 09. Januar 2017 fand zum ersten Mal Ghost Town statt, ein Generalstreik, bei dem alle Shops und sonstige Institutionen geschlossen sind, keine Bikes und Taxen fahren und alle Bewohner Zuhause bleiben sollen, sodass die Stadt zur Geisterstadt wird. Ghost Town sollte nun wöchentlich immer montags stattfinden, während der Streik der Anwälte und Lehrer ebenfalls bestehen blieb.
Der letzte Dialog zwischen der anglophonen Bevölkerung und der Regierung kam am 13. Januar 2017 zustande. Dabei forderte die Regierung, dass die Schulen wieder öffnen sollten, worauf die Anglophonen jedoch nicht eingingen, weshalb das Treffen ergebnislos blieb.

Des Hochverrats und Terrorismus‘ beschuldigt wurden wenige Tage später, am 17. Januar, die Anführer des CACSC verhaftet. Ebenso wurde an diesem Tag das Internet abgeschaltet, um die Kommunikation der anglophonen Bevölkerung zu erschweren und somit weitere Streiks und Proteste zu verhindern. Erst am 20. April 2017 erlange die anglophone Bevölkerung wieder Zugang zum Internet, als die Regierung sich dem hinzukommenden Druck der UN beugte.

Ruf nach Unabhängigkeit

In den nächsten Monaten blieben die Schulen geschlossen, Menschen saßen ohne Gerichtsverhandlungen in Haft, da die Anwälte noch immer streikten, und an Montagen blieben alle Geschäfte im Rahmen von Ghost Town geschlossen. Doch während abseits der Streiks der Alltag einigermaßen normal weiterging, spitzte sich die Krise unter der Oberfläche zu und was mit Protesten begann, wurde nun zu einem Ruf nach Unabhängigkeit: ein Teil der anglophonen Bevölkerung wollte aus den beiden Regionen Nord-West und Süd-West einen eigenen Staat namens „Ambazonia“ bilden. Diese Unabhängigkeit sollte symbolisch am 01. Oktober, dem Jahrestag des Zusammenschlusses von Britisch- und Französisch-Kamerun, erklärt werden.

Im September sollten außerdem offiziell die Schulen wieder eröffnen, allerdings kam es immer wieder dazu, dass Schulen von unbekannten Gruppen angezündet wurden und Warnungen an die Eltern, die ihre Kinder in die Schule schickten, herumgingen. Daher nahmen schließlich nur die kirchlichen Schulen ihre Arbeit wieder auf, bekamen jedoch nur wenig Zulauf, da die Eltern zu viel Angst hatten, ihre Kinder dorthin zu schicken.

Mit dem nahenden 01. Oktober weitete sich Ghost Town auf drei Tage pro Woche (Montag bis Mittwoch) aus und bei einem eigentlich friedlich geplanten Marsch für die Unabhängigkeit am 22. September 2017 erreiche die Krise einen erneuten Höhepunkt, als es zu Schießereien zwischen protestierenden Bürgern und dem Militär kam.

Um die Unabhängigkeitserklärung "Ambazonias" zu verhindern und unbeteiligte Bürger vor gewaltsamen Protesten zu schützen, verhängte die kamerunische Regierung eine Ausgangssperre vom 29. September bis zum 02. Oktober 2017, wonach Versammlungen von mehr als vier Personen verboten sein sollten. Schon vom 29. September an wurde von unrechtmäßigen Verhaftungen, gewalttätigen Einbrüchen und Zerstörungen von Eigentum seitens des Militärs berichtet. Die Lage eskalierte schließlich am 01. Oktober, da das Militär jegliche Proteste gewaltsam niederdrückte und die Ausgangssperre durch den Gebrauch von Schusswaffen und Tränengas durchzusetzen suchte. Die Eskalationen forderten mindestens siebzehn Tote (die von Amnesty International bestätigte Zahl) und zahlreiche Verletzte. Wie ich persönlich den 01. Oktober erlebt habe, habe ich euch in diesem Post geschildert: Unruhen auf der Straße, Stille im Kloster.

Zwischen Normalität und Anspannung

In den nächsten Wochen entspannte sich die Lage insofern, als dass das Leben zumindest hier in Kumbo und Umgebung nahezu normaler weiterging als vor dem 01. Oktober. An den Montagen fand zwar offiziell noch immer Ghost Town statt, allerdings wurde dies immer weniger respektiert, so arbeiteten zum Beispiel die kirchlichen Einrichtungen nun montags und immer häufiger waren auch Taxen auf den Straßen zu sehen. Außerdem füllten sich langsam die bereits geöffneten Schulen wieder mit Schülern. Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass die meisten Menschen noch immer frustriert waren, aber auch in der Unabhängigkeitsbewegung keine Chance sahen und Angst vor erneuten Eskalationen hatten.

Während sich die Lage im Nordwesten weitgehend normalisierte, kam es im Südwesten vermehrt zu Anschlägen von Separatisten, bei denen im November insgesamt vier Soldaten und zwei Polizisten starben. Infolgedessen begannen Flüchtlingsströme aus dem anglophonen Kamerun nach Nigeria.

Aktuelle Entwicklungen

Im Januar 2018 wurden die Anführer von „Ambazonia“ in Nigeria verhaftet und nach einigen Tagen in die kamerunische Hauptstadt Yaoundé gebracht. Bislang wurden sie allerdings noch nicht der Bevölkerung gezeigt, weshalb viele Menschen daran zweifeln, dass sie noch leben. Die anglophone Bevölkerung forderte, am 05. Februar die Anführer lebend zu sehen, was jedoch nicht passierte. An diesem Montag fand zum ersten Mal wieder ein ernsthafter Ghost Town Tag statt, bei dem die Straßen wie leer gefegt gewesen sein sollen – ich bin selbst Zuhause geblieben -, ansonsten folgten aber keine Reaktionen darauf, dass die Regierung nicht auf diese Forderung eingegangen ist.

In den letzten Wochen kam es vermehrt zu Erschießungen sowohl von Polizisten/ Gendarmen/ Soldaten als auch Separatisten und Zivilisten sowie Verwüstungen ganzer Dörfer; es ist allerdings in vielen Fällen nicht klar, ob sie wirklich etwas mit der Krise zutun haben oder unabhängig davon sind und zu Propagandazwecken missbraucht werden.

Am Sonntag, den 11. Februar 2018 ist der nationale Jugendtag in Kamerun, an dem – wie mir erzählt wurde – eigentlich immer alle Jugendgruppen, Schulklassen etc. in einer großen Parade marschieren. Die Anführer „Ambazonias“ haben bereits angekündigt, den Jugendtag zu boykottieren, weshalb momentan nicht klar ist, ob und wenn ja, was am nächsten Sonntag passieren wird.


Nachdem ich dem ein oder anderen mit diesem Post nun vielleicht Angst gemacht habe, kann ich euch beruhigen, dass es mir selbst hier gut geht und ich keine Angst haben brauche, da ich außerhalb des Konflikts stehe und es daher keinen Grund gibt, weshalb ich in irgendeiner Art und Weise angegriffen werden sollte. Das nächste Wochenende werde ich wieder in Romajay im Kloster verbringen (allerdings nicht direkt aus Sicherheitsgründen, sondern weil die Sisters uns gebeten haben, ihnen beim Osterkerzen bemalen zu helfen) und ich werde versuchen, euch über die weiteren Geschehnisse auf dem Laufenden zu halten.

Quellen/ Zum Weiterlesen
Reuters: Cameroon seperatist leader taken into custody in Nigeria (Artikel vom 07.01.2018)
Junge Welt: Eskalation in Kamerun (Artikel vom 10.01.2018)
Deklaration der anglophonen Bischöfe vom 02. Oktober 2017 (habe ich leider nicht öffentlich im Internet gefunden, aber wer daran Interesse hat, kann mir einfach schreiben, dann schicke ich sie per Mail)

Wenn ihr weitere Artikel lesen wollt: auf deutsch berichtet vor allem die taz relativ regelmäßig (allerdings sollte man die Artikel lieber mit etwas Vorsicht genießen, die passen zum Teil nicht zu meinen Beobachtungen) und auf englisch Journal du Cameroun.

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1 Kommentare

  1. Wow, vielen Dank für diesen ausführlichen und informativen Post. Ich wüsste über diesen Konflikt bisher so gar nichts, weil der, wie du schon sagst, in den deutschen Nachrichten kaum ankommt (und ich mich ehrlich gesagt auch nicht so sehr für Nachrichten begeistern kann), und eigentlich ist das traurig, weil die Menschen dort ja wirklich darunter leiden. Generell klingt das nach einer sehr traurigen und anstrengenden Geschichte. Die Kolonialisierung hat in vielen Ländern einfach so viel kaputtgemacht durch wilkürliche Grenzsetzungen und Aufteilungen und es ist schrecklich, dass die Menschen noch immer darunter leiden und die Bevölkerung des anglophonen Teils von Kamerun scheinbar nicht mehr weiß, was sie noch machen soll, und so unterdrückt wird. Meinst du, da besteht in den nächsten Jahren irgendwie Aussicht auf eine Klärung des Konfliktes?

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